Zur Einführung
Wer sich in medizinischen Fachbüchern oder im Internet über Gelenkverletzungen, z.B. über Schulterausrenkungen, informieren möchte, stößt regelmäßig auf den Namen Hippokrates. Denn der große Arzt der griechischen Klassik besaß auf Grund seiner täglichen Praxis bereits umfassende Kenntnisse über die Behandlungsmöglichkeiten. In seinem medizinischen und literarischen Meisterwerk "über die Gelenke", das im 2. nachchristlichen Jahrhundert von Galen aus Pergamon kommentiert worden ist, hat er zahlreiche Einrenkungsverfahren genau und anschaulich beschrieben. Er hat damit Standards gesetzt, die nicht nur in der Antike maßgeblich waren, sondern auch heute noch aktuell sind.
Das Einrenken der Schulter mit Hilfe der Ferse des Arztes zum Beispiel ist eine klassische Behandlungsmethode, die auch der moderne Therapeut beherrschen muß. Nach Hippokrates braucht der Arzt bei diesem Repositionsverfahren mindestens zwei Assistenten. Als Hilfsmittel empfiehlt er einen kleinen harten Lederball und einen Riemen. Der Lederball muß in die Achselhöhle hineingelegt werden. Denn wenn der Arm gestreckt wird, spannen sich die Sehnen an beiden Seiten der Achsel und bilden eine Barriere, die der Arzt mit seiner Ferse nicht überwinden kann. Der Ball füllt die Höhlung aus und stellt die Verbindung zwischen der Ferse und dem ausgerenkten Oberarmkopf her. Wie Hippokrates sich die Behandlung insgesamt vorgestellt hat, zeigt eine Illustration aus einer Handschrift des 16. Jahrhunderts.
Die verschiedenen orthopädischen Verfahren der Schultereinrenkung, die Hippokrates in den Anfangskapiteln seiner Schrift darstellt, versprechen Abhilfe bei dem am häufigsten auftretenden Fall, d.h., wenn der Oberarmkopf nach unten in die Achselhöhle herausgetreten ist. Falls keine Hilfsmittel wie eine Stuhllehne, eine Leiter oder ein speziell geformtes Holzinstrument zur Hand sind, kann sogar der obere Schulterbereich des Arztes als Auflage dienen. Der Arzt nimmt den kranken Arm in beide Hände, stemmt seine Schulter in die Achselhöhle des Patienten, steht dann auf und versucht zu erreichen, daß der Patient über seiner Schulter in der Schwebe hängt. Dann muß der verletzte Arm in bestimmter Weise bewegt und der hängende Patient geschüttelt werden. Wenn das Gegengewicht, das von dem Körper des Patienten gebildet wird, nicht ausreicht, soll ein Assistent den Patienten nach unten ziehen (Illustrationen in der ältesten Handschrift und in einem Kodex des 16. Jahrhunderts).
Galen hat umfangreiche und ausführliche Kommentare zu fast allen wichtigen hippokratischen Werken verfaßt. Dabei waren die beiden chirurgischen Schriften über die Behandlung von Knochenbrüchen und das Einrenken von Gelenken die ersten, mit denen er sich beschäftigt hat. Die hippokratischen Werke wurden als Klassiker der medizinischen Literatur im Unterricht gemeinsam gelesen und ausgelegt. In seinen Kommentaren erinnert Galen häufig an diese Unterrichtssituation. Als Interpret konnte sich Galen auf eine reiche Kommentar-Tradition stützen. In der Folgezeit erwies sich sein Werk als so erfolgreich, daß es alle Kommentarschriften seiner Vorgänger verdrängte, mit einer Ausnahme: der Text- und Bildkommentar des Apollonios von Kition blieb erhalten; auch dieser Text ist der Erklärung der hippokratischen Schrift "über die Gelenke" gewidmet, ihm verdanken wir die berühmten Illustrationen.
Im folgenden lesen Sie die ersten Abschnitte aus dem ersten Buch des Galenkommentars; der Text wurde erstmalig kritisch ediert und ins Deutsche übersetzt.
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